Tetris mit Pflegepersonal?

Am 1. Juli 2023 tritt die neue Vorgabe zur Personalbemessung in der Pflege PeBeM in Kraft. Jede vollstationäre Pflegeeinrichtung muss dann bis 2025 den individuellen Personalbedarf berechnen und entsprechend qualifiziertes Personal vorhalten. 

Mit der Personalbemessung berechnen stationäre Pflegeeinrichtungen, wie viel Personal sie mit welcher Qualifikation einstellen müssen. Anstelle der bisher starren Fachkraft-Quote soll der tatsächliche Personalbedarf nun an der Anzahl der Heimbewohner und deren Pflegegrad berechnet werden: Für eine Person des Pflegegrads 5 werden also entsprechend mehr Fachkräfte benötigt als für eine Person mit niedriger Pflegebedürftigkeit.

Nach den neuen Vorgaben muss jede Einrichtung den eigenen Personalschlüssel individuell berechnen. Das Verfahren sieht vor, dass anhand des "Case-Mix" einer Einrichtung – also der Anzahl der Bewohner in jedem Pflegegrad – ein individueller und auch variabler "Care-Mix", also der erforderlichen Personalmenge in verschiedenen Qualifikationsniveaus, errechnet wird. 

Daraus ergibt sich dann der Personalbedarf mit vier verschiedenen Qualifikationsstufen:

  • Pflegefachkräfte
  • Assistenzkräfte mit zweijähriger Ausbildung
  • Assistenzkräfte mit einjähriger Ausbildung
  • Hilfskraftpersonal ohne relevante Ausbildung

Wieviel Personal dabei vorzusehen ist, regelt die Personalbemessung nach § 113c Sozialgesetzbuch XI. Beispielsweise wird bei einem Bewohner des Pflegegrads 5 der Einsatz einer Pflegefachkraft mit mindestens 0,3842 Vollzeitäquivalenten verlangt. 

In seiner Roadmap setzt sich das Gesundheitsministerium angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels das Ziel, den Pflegepersonaleinsatz bedarfsgerecht und langfristiger zu sichern. Damit erhofft man sich eine optimale Verteilung der ohnehin knappen Personalressourcen im Pflegebereich, um mehr Qualität bei der Pflege zu erreichen. Die begehrten Pflegefachkräfte sollen künftig nur noch die Aufgaben übernehmen, für die eine Fachkraft erforderlich ist. Weniger komplexe Tätigkeiten fallen dann in den Zuständigkeitsbereich der Assistenzkräfte.

Auch wenn angesichts von Personalengpässen vor allem bei Fachkräften die Idee verständlich ist, gut ausgebildetes Fachpersonal gezielter da einzusetzen, wo der Bedarf ist und in der Bemessung keine "Klumpenbildung" vorzuhalten, sondern ergänzende und weniger qualifizierte Aufgaben an Assistenzkräfte zu geben, ist der Ansatz praxisfern. Die komplizierten Berechnungsverfahren des Modell bedeuten gewiss ein Geschäft für Software-Produzenten, die sich, intensiver Werbung zufolge, bereits warmlaufen. Hauptsache digital! Ob aber daraus tatsächlich Erleichterung der Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte, mehr Effizienz sowie Pflegequalität für Clienten resultieren, erscheint wenig wahrscheinlich. Ernüchternd ist nämlich die Missachtung so vieler pflegefachlicher Fragestellungen:

  1. Die theoretische und methodische Grundlage der Entwicklung des Pflegepersonalbemessungsinstrumentes im Kontext des SGB XI ist sehr kritisch zu betrachten. Es geht vom Pflegebedürftigkeitinstrument des SGB XI aus, das nicht Pflegebedarfe misst. Des Weiteren inkludiert es ein völlig obsoletes Verständnis zeit- und verrichtungsorientierter Pflege. Die Zuordnung von vorher definierten Kompetenzen zu den Modulen des Instrumentes zur Messung von Pflegebedürftigkeit nach SGB XI ist aus pflegewissenschaftlicher und pflegefachlicher Perspektive nicht nachzuvollziehen und entbehrt jeglicher nachvollziehbaren Grundlage. Berechnete Pflegegrade nach SGB XI geben keine Erkenntnisse über Pflegebedarfe. Da das SGB XI sowieso nur ein Teilleistungsrecht ist und nicht die fachliche Pflege zahlt, gibt es an keiner Stelle des SGB XI Erkenntnisse über Pflegebedafe. Dieses Instrument zur Messung von Pflegepersonal im Kontext SGB XI kommt ganz ohne ein Verständnis von Pflegefachlichkeit und Pflegebedarfen aus und wird eine weitere Deprofessionalisierung und Entfachlichung der Pflege im Kontext des SGB XI bewirken.
  2. Der technokratischen Berechnung einer optimierten Personaleffizienz mit der jeweils richtigen Qualifikationsstufe ergibt nur bei akribischer Ausnutzung der berechneten Optimierung des Einsatzes wirtschaftlichen Sinn. So aber wie der Pflegeroboter über ein nettes Spielzeug hinaus noch lange keine echte clientenzentrierte Pflege ersetzen wird, ist auch die rein mathematische Dispositionsoptimierung für die eigentlich mit dem Gesetz reklamierte Pflegequalität eine bloße Illusion. Auch im Management hilft die theoretische Berechnung von Sollstärken in verschiedenen Qualifikationsstufen nicht bei der Mitarbeitergewinnung, sie berücksichtigt keine Arbeitsverträge oder individuellen Arbeitszeit- und Arbeitsortwünsche der Arbeitnehmer und unterstützt keinerlei individuelle Kompetenzen und Qualitäten. Hinter dem Modell der mathematischen Modelle der Mitarbeiterdisposition steht ein seltsames Bild von Pflegekräften als beliebige Verschiebemasse: "Tetris mit Pflegepersonal"?
  3. Bestenfalls ist in der Dienstplanung bei wechselnden Belegungen mit unterschiedlichen Pflegegraden und/oder personellen Engpässen ein Arbeitsplatzwechsel zwischen Abteilungen eines Standortes denkbar; zwangsläufig geht diese Dienstplanflexibilität aber zu Lasten der Pflegequalität, weil die Clienten/Bewohner für eine persönliche Pflege keine Springer, sondern kontinuierliche Ansprechpartner und Pflegekräfte benötigen, die sie auch mit ihren sozialen und psychischen Bedürfnissen kennen. Viel zu oft werden alte Menschen in Einrichtungen jetzt schon nur noch anonym bedient wie eine Maschine oder wie im Schnellimbiss. Noch häufigerer Wechsel nach Computerberechnung wäre zweifellos kontraproduktiv für die Pflegequalität.
  4. Für keine der definierten Tätigkeitsstufen gibt es derzeit vollinhaltlich definierte Berufsbilder mit differenzierten Kompetenzanforderungen und Qualifikationsbeschreibungen bzw. abgegrenzten Stellenbeschreibungen und Zuständigkeiten. Dementsprechend sind Aus- und Weiterbildung sind für insbesondere für die Assistenzkräfte bestenfalls rudimentär, keinesfalls aber konsistent, einheitlich und verbindlich geregelt. Entgegen dem reklamierten Qualitätsziel bestehen keine ausreichenden Qualitätskriterien mit Bildungs- und Führungskonzepten.
    Schon jetzt liegen hierzulande Befähigung und Zuständigkeiten von Pflegekräften im internationalen Vergleich so niedrig, dass eine weitere Reduzierung den Schwund an Fachkräften und Interessenten für den Pflegeberuf nur weiter beschleunigen wird. Auch wenn nicht für jede Tätigkeit die Qualifikation immer höher gesetzt werden kann und Differenzierung erforderlich ist, gibt es für die hier genannten Assistenzaufgaben noch keinen überzeugenden Plan, welche Zuständigkeiten und Befugnisse sie in Abgrenzung von Fachkräften (darüber) und Hilfskräften (darunter) haben sollen. Praktisch ändert sich damit für die Einrichtungen nichts am unsicheren status quo. Darüber hinaus fehlt diesem Personalbemessungsinstrument nach SGB XI ein gut entwickeltes pflegeinternes Delegationsmodell. Aufgrund der eklektischen Entwicklung des Instrumentes, das sich in der Logik eines Sozialgesetzbuches befindet, das im Grunde nur das Risiko einer Pflegebedürftigkeit, aber nie die Finanzierung einer bedarfsangemessenen fachlichen Pflege decken wollte, können die Defizite dieses Personalbemessungsinstrumentes erklärt werden.
  5. Bei der Propagierung der Assistenzkräfte wird von verschiedenen Fachkreisen ein weiteres Downgrading für den gesamten Berufsstand der Pflege bemängelt: Anstelle einer Erweiterung der Handlungsfelder und Verbesserung bzw. Spezialisierung von Aus- und Weiterbildung für bessere Berufsbedingungen von Fachpflege, wie es im internationalen Vergleich längst Standard ist, wird unter das aktuell ohnehin schwache Niveau lediglich ein Billiglohnsektor eingeschoben. Auch wenn nicht permanent nach oben graduiert werden kann, sondern auch einfache Aufgaben qualifiziert abgearbeitet werden müssen, ist es eine Grundbedingung, dass die Qualifikationsstufen und ihre Zuständigkeiten zuvor definiert, abgegrenzt und im Aus- und Weiterbildungssystem implementiert sind. Dies ist aber nicht der Fall und das Pferd wird von hinten aufgezäumt. Die bloße Forderung nach dem Einsatz von billigeren Assistenzkräften als Pflegekräfte 2. oder 3. Klasse ist vielleicht ein Reflex, der aus der Personalteuerung in Folge der Tarifpflicht kommt, sie zeugt aber weder von Qualitätsbewusstsein in den Einrichtungen, noch von Bildungsverständnis für die Berufsentwicklung von jungen Menschen in Pflegeberufen.
  6. Bislang gibt es keine Aussagen für verbindliche Aus- und Weiterbildungsstrukturen. Das verwundert nicht, wenn es keine klaren Kompetenz- und Qualifikationsbeschreibungen für die Stufen gibt. Assistenzkräfte, die mangels klarer Stellenbeschreibung und Qualifikation kein eigenes Tätigkeitsprofil haben, also nicht als Fachkräfte zählen, haben gegenüber ungelernten Hilfskräften mit nahezu denselben Tätigkeiten weiter keinen eigenen Berufsmarkt. Sie sind nämlich weder wirtschaftlich für die Einrichtungen, noch eine berufliche Perspektive für junge Menschen, die man für den Pflegeberuf gewinnen will. Für ein Konzept ohne Bezug zum Berufsfeld ist dann die theoretische Hochrechnung eines möglichen Personalmehrbedarfs für Pflegeassistenzkräfte auf 69 % eine akademische Zahlenspielerei ohne jeden praktischen Wert. 
  7. Zwar bezieht sich die neue Personalbemessungsvorgabe auf Leistungen nach SBG XI, die überwiegend die Alten- und Angehörigenpflege betreffen, denn Fachkrankenpflege nach SGB V in Krankenhäusern oder der ambulanten Intensivpflege ist aber etwas ganz anderes und verlangt andere Kompetenzen, aber in den Diskussionen wird beides unglücklich miteinander vermischt. Dies ist ein systematischer Fehler, der aber von Unverständnis für die Bedeutung und Qualität von richtiger Fachkrankenpflege und den anderen Anforderungen guter Altenpflege zeugt. Fest steht, dass das Modell, das bereits für die Altenpflege als nicht förderlich angesehen wird, gerade weil das SGB XI gar nicht gerontologische oder gerontopsychiatrische oder irgendeine Form der Langzeitpflege zahlt, aber für Fachkrankenpflege mit Leistungen nach dem SGB V überhaupt nicht anwendbar ist.

Das Gesetz lässt für die Umsetzung noch bis 2025 Zeit. Einrichtungen sollen sich darauf einstellen und Ausbildungsinstitute den Bedarf decken. Aber die entscheidenden Vorarbeiten, wie Bildungskonzepte, differenzierte Tätigkeitsprofile, Stellenbeschreibungen und eine klare Abgrenzung der Qualifikationsstufen zu definieren, wurden vergessen bzw. sträflich vernachlässigt.

Fazit: Mit technikverliebten, aber fachlich dysfunktionalem Regelungsflickwerk erodiert die Qualität für clientenzentrierte gute Fachpflege leider weiter, Mitarbeiter werden wie Verschiebemasse zum unpersönlichen Planungsfaktor und logischerweise in ihren Berufsbedingungen weiter demotiviert. Die Konsequenz wird anstelle der reklamierten Hoffnung auf nachhaltige Personalsicherung und Pflegequalität sein, dass die Bildung eines Berufsethos für die Pflege mit einer selbstbewussten Berufs- und Weiterbildungsordnung weiter in die Ferne rückt.

Autoren: Prof. Dr. Wolfram Schottler, Prof. Dr. Martina Hasseler, Annemarie Fajardo