Pflegenotstand ist als Begriff seit vielen Jahren in aller Munde. Gleichwohl sind keine wirksamen Maßnahmen zu erkennen, die diesen Pflegenotstand trotz der demografischen Alterung und Prognosen angehen.

Was heißt Pflegenotstand? Der Pflegenotstand ist ganz sicher auch am Pflegefachberufemangel in der Langzeitpflege zu erkennen. Wir wissen seit vielen Jahren, dass wir zu wenig Pflegefachberufe haben. Wir können die derzeitigen Bedarfe nicht decken, aber viele Prognosen deuten darauf hin, dass wir die Pflegeberufebedarfe in der Zukunft ganz sicher nicht ansatzweise erfüllen können. Bereits jetzt macht sich der Pflegepersonalnotstand daran bemerkbar, dass ambulante Pflegedienste Klienten*innenanfragen nicht bedienen oder Pflegeheime Pflegebedürftige nicht aufnehmen können. Die politische Lösung scheint zu sein, auf mehr Helfer*innen oder Assistenten*innen und weitere pflegeferne Betreuungsberufe zu setzen. Das Problem ist jedoch, je mehr die pflegerische Versorgung auf sehr unterschiedliche Berufs- und Helfergruppen verteilt wird, desto fragmentierter und schlechter wird die Qualität und das Ergebnis der pflegerischen Versorgung. Auffallend ist, dass in Deutschland nicht die dringend erforderliche gerontologische und/oder gerontopsychiatrische Pflege unterstützt und gefordert wird, sondern eine fragmentierte, reduzierte und laisierte Pflege. Festzuhalten bleibt, es ist nicht möglich, eine qualitativ hochwertige Pflege mit geringer Fachlichkeit zu erreichen. Die derzeitigen Bemühungen und Realitäten in den Pflegeheimen und ambulanten Diensten zeigen jedoch, dass immer weniger Pflegefachlichkeit möglich ist, weil immer weniger Pflegefachberufe pflegebedürftigennah arbeiten. Diese Entwicklung verstärkt im Übrigen noch den Pflegefachpersonalmangel. Wir befinden uns in einem Teufelskreislauf, aus dem wir ohne große Reform und Bekenntnis zur Pflegefachlichkeit nicht herauskommen werden. Des Weiteren macht sich ein Pflegenotstand an der physischen und psychischen Überlastung pflegender Angehöriger bemerkbar. Da die Pflegeversicherung intentional auf die Pflege durch die Familie oder das soziale Umfeld aufbaut und eine bedarfsangemessene Pflege nicht finanziert, können Pflegebedürftige und pflegende Angehörige nicht angemessen unterstützt werden. Diese Situation erhöht den Pflegenotstand, weil zunehmend weniger pflegende Angehörige die Pflege übernehmen können. Diese elementare Ressource - pflegende Angehörige - ohne die die Pflegeversicherung gar nicht funktionsfähig wäre, wird in Zukunft knapper, da immer mehr pflegebedürftige Menschen auf weniger Kinder und junge Menschen treffen, die sie in der Familie versorgen können. Des Weiteren wird der Pflegenotstand dadurch verstärkt, dass wir nicht nur in Zukunft mehr ältere Menschen mit Pflegebedürftigkeit und Pflegebedarfen haben werden. Aktuelle Studien weisen auch darauf hin, dass die Anzahl demenzieller Erkrankungen zunehmen wird. Darauf sind wir in Deutschland weder in den Angeboten ambulanter noch in den Angeboten stationärer Langzeitpflege vorbereitet. Wie ich bereits ausführte, es gibt keine Möglichkeiten im Korsett des SGB XI fachliche Konzepte der gerontologischen und gerontopsychiatrischen Pflege bedarfsangemessen zu offerieren. Aus aktuellen Gründen möchte ich damit abschließen, dass wir aufgrund der Pandemiefolgen und den Auswirkungen des Krieges, die enorme Kosten verursachen, nicht damit rechnen können, dass der Pflegenotstand auch auf politischer Ebene anerkannt wird. Es wird keine substantielle Unterstützung geben, um den Pflegenotstand anzugehen. Dafür wäre ein sehr großer Wurf bzw. es wären große Reformen erforderlich. Die Dringlichkeit des Problems Pflegenotstand, so fürchte ich, wird ganz hinten auf der politischen Agenda landen.

Prof. Dr. habil. Martina Hasseler
Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften,
Fakultät Gesundheitswesen
Professorin für Klinische Pflege

Niedersächsischer Wissenschaftspreis 2020

Erstveröffentlicht: EVIM, April 2022