(Fachmagazin WIRKSAM 01/2024)
Der Pflegeberuf befindet sich seit Jahren in der Krise: Fachkräftemangel, unzureichende Qualifikation, geringe Wertschätzung, kaum Kompetenzen. Weil in Deutschland undifferenziert nur von “die Pflege” gesprochen wird und keine professionelle Abgrenzung erfolgt, hat der Berufsstand ein Legitimationsproblem.
Reformen reihen sich aneinander, scheinen aber kaum einen substanziellen Ansatz oder eine übergeordnete Gesundheitsstrategie zu finden. Die Corona-Pandemie machte die Widersprüche deutlich, dass die Pflegeleistung zwar geschätzt, aber nicht wertgeschätzt war. In der Folge wurde eine Tarifpflicht mit höheren Gehältern geschaffen, aber grundsätzlich änderte es nichts. Im Gegenteil: der Fachkräftemangel verschärfte sich, weil die Gehaltserhöhung für mehr Teilzeit genutzt wird. Es muss also an etwas anderem liegen.
Ein grundsätzliches Problem liegt im öffentlichen Fachverständnis von dem, was Pflege sein und leisten soll, das nicht differenziert zwischen verschiedensten Pflegeaufgaben für verschiedene Altersstufen, soziale Hilfestellungen und Aufgaben als professioneller Heilberuf für Krankenbehandlung. Daraus nimmt ein System unzureichender Bildung und Weiterbildung seinen Anfang; mit allen organisatorischen Folgen geringer Kompetenzzuschreibung in der Krankenhaus- und Pflegedienst-Praxis. Deutschland ist hier dem internationalen Stand deutlich hinterher und besitzt kein Selbstverständnis für ein multiprofessionelles Zusammenwirken der Pflege mit Ärzten und weiteren Gesundheitsberufen. Für eine bildungspolitische Initiative zur Verbesserung der Standards und mehr Kompetenz in Pflegeberufen ist allerdings die Vielfalt inkonsistenter und heterogener Vorschriften und Einflussnahmen von Politik und Interessensverbänden überwältigend. Allein die regional unterschiedlichen Weiterbildungsverordnungen der Bundesländer sind kaum vergleichbar und kompatibel. Hinzu kommen unzählige Regelungen von Kostenträgern, Fachgremien oder Leitlinien, die eine systematische pflegerische Bildungspolitik aktuell sehr aufsplittern.
FORT- UND WEITERBILDUNG
Das Pflegeberufegesetz gibt seit 2020 ein neues Ausbildungsziel mit der Generalistik vor, ist aber nicht in Form einer Weiterbildungsordnung für eine systematische Berufsbiografie weitergedacht, wie sie bei anderen Gesundheitsberufen selbstverständlich ist. Auch mit einem Pflegestudium, zu dessen stärkerer Annahme der Bundestag 2023 ein Stärkungsgesetz beschlossen hat, ergeben sich keine erweiterten Fachkompetenzen und Zuständigkeiten in der klinischen Praxis.
Pflegefachberufe benötigen in der Fort- und Weiterbildung ein neues Verständnis von differenzierter Professionalisierung als Heilberuf mit klar definierten Kompetenzfeldern. Das Stehenbleiben bei der Ausbildung bedeutet zwangsläufig einen fachpflegerischen Rückschritt, wenn systematisch keine
fachpflegerischen Spezialisierungen bzw. Vertiefungen in höheren Qualifizierungsniveaus vorgesehen sind. Zwar wird von Pflegefachpersonen gefordert, sich kontinuierlich fortzubilden, um auf dem neuesten Stand der Wissenschaft und Technik zu bleiben sowie um eine qualitativ hochwertige
Pflege gewährleisten zu können, Pflichtfortbildungen sind durch Gesetze (§ 5 PflBG, § 11 SGB XI), Vorschriften oder Rahmenvereinbarungen (§§ 132a und 132l SGB V) vorgeschrieben und wirken faktisch als Zulassungsvoraussetzung für bestimmte Berufsbereiche, aber eine regelhafte Entwicklung
besteht nicht systematisch.
So bestimmt keine berufsständische Weiterbildungsordnung über die Entwicklung von Pflegefachkräften, sondern Kostenträger und Landesregierungen,was zu einem inkonsistenten Flickenteppich führt. Immer wieder irritierend ist, dass sich Pflegefachpersonen nicht auf einheitliche Anerkennungen, Weiterbildungsbestimmungen und Qualitäten von nicht akkreditieren Bildungsangeboten verlassen können: Beispielsweise müssen Praxisanleiter ihre Pflichtfortbildung in Nordrhein-Westfalen wieder als Präsenzunterricht erfüllen, während Hamburg weiter den Online-Unterricht akzeptiert. Auch bei der PDL-Weiterbildung differieren die geforderten Vorgaben hinsichtlich Stundenumfang, Inhalten und Prüfung gravierend. Unprofessionell sind auch lebenswichtige Schulungen: Pflegekräfte erhalten in der Ausbildung einen Erste-Hilfe-Kurs, wie ihn sonst Laien zum Führerscheinerwerb brauchen; bei der Schulung von Reanimationen kann teilweise einfach ein Video angesehen werden, das aber die gleichwertige Anerkennung wie eine Live-Schulung mit simulierter Reanimation an einer Reanimationspuppe erhält.
HANDLUNGSBEDARFE
Für pflegerische Weiterbildung gibt es keinen “Akademiezwang“ mit kontrolliertem Learning-Outcome:
praktisch jede größere Einrichtung (Krankenhaus oder Pflegedienst) kann ihre Fort- und Weiterbildung ohne externe Kontrolle zur Qualität durch einen beliebigen eigenen Mitarbeiter im Hinterzimmer durchführen. Weder die Lehrpläne, die Schulungsmaterialien, noch die Befähigung des Dozenten oder die konkrete Durchführung unterliegen irgendeiner Prüfung bzw. Qualitätssicherung. Die Zertifikate mögen formal bürokratische Anforderungen erfüllen, aber zur fachlichen Qualifikation in landesweiter Breite tragen sie nicht gesichert bei. Die Umsetzung der Ausbildungs- und Prüfungsordnung für vorgeschriebenen Unterricht mit dem Praxisanleiter am Patientenbett wird nur “auf Plausibilität im Papier“ geprüft, etwa über die Dienstplanung; wie aber der Praxisunterricht tatsächlich abgebildet wird, hängt individuell am Praxisanleiter und seiner Unterstützung durch die Geschäftsleitung. Die Ergebnisse entziehen sich jeder Kenntnis und Überprüfung.
Das Gesundheitssystem fördert die Entwicklung qualifizierter Fachpflege aktuell nicht und führt zu einer fortlaufenden Deprofessionalisierung. Der Teufelskreis ist, dass Fachpflegeleistungen in der Praxis nicht gefragt sind, weil es oft an Kompetenz fehlt und die Bildungsentwicklung diese Kompetenzen
aufgrund mangelnder Nachfrage nicht anbietet. Unzureichende fachliche Abgrenzung zu Grundpflegeaufgaben oder zu anderen Heilberufen tragen weiter zu Fluktuation und Personalmangel im Pflegesektor bei. Pflegerische Fort- und Weiterbildung ist noch immer von inkonsistentem Wildwuchs
geprägt, der ambitionierte Pflegefachpersonen abweist. So verwundert es nicht, dass Pflegeberufe oft keine Anerkennung erhalten.
LÖSUNGSANSÄTZE
Für systematische Fachqualifikation und Planbarkeit der Berufsbiografie von im Pflegeberuf tätige Menschen müssten Aus-, Fort- und Weiterbildung bis zur Hochschulbildung nachvollziehbare Qualitätskriterien und äquivalente Inhalte für den professionellen und differenzierten Kompetenzerwerb
entwickelt werden. Dies erstreckt sich auf
- die generalistische Grundausbildung mit länderübergreifend anerkannten Lehrplänen,
- die berufsfeldbezogene Spezialisierung für unterschiedliche Pflegeaufgaben nach Altersstufen, Behinderungen oder Intensivpflege oder Führungspositionen in anerkannten Weiterbildungen mit spezifischen Curricula und Abschlüssen,
- die Möglichkeit zum dualen bzw. grundständischen Pflegestudium sowie zur fachspezifischen akademischen Weiterentwicklung und Forschung,
- die Äquivalenzprüfung von Aus- und Weiterbildungen von Fachpflege im internationalen Kontext und Vergleich,
- Entwicklung besserer Kompetenzen in multiprofessionellen Versorgungssettings.
Auch hinsichtlich der Personalengpässe in Pflegeberufen ist mehr Durchlässigkeit zwischen verschiedenen Bildungsstufen mit verlässlicherer Anerkennung qualitätsgesicherter Abschlüsse für professionelle Bildungsbiografien und berufliches Selbstverständnis wichtig. In der Diskussion um Wertschätzung, Fachkräftemangel und Arbeitsbedingungen müssen Bildung und Weiterbildung für Pflegeberufe endlich als Schlüsselthemen anerkannt werden. Zur Verbesserung des Berufsbildes
ist die konsistente Bildung von Qualifikationen und Kompetenzen unerlässlich. Dazu sind länderübergreifende Vereinheitlichungen von Bildungskonzeptionen mit systematischer Kompetenz- und Tätigkeitsorientierung erforderlich. Ein einheitliches kompetenzorientiertes Qualifikationskonzept sollte die Grundlage setzen für
- ein neues Qualitätsverständnis für verschiedene Bereiche der Fachpflege und in Sonderfunktionen spezifische Kompetenzniveaus differenzieren,
- eine qualifizierte Erweiterung von Tätigkeitsfeldern im multiprofessionellen Setting,
- eine klare Abgrenzung schaffen, welche Verantwortlichkeiten und Anforderungen mit welchen Qualifikationsniveaus verbunden sind,
- innerhalb des praktischen Berufsfeldes mehr bildungsbiographische Durchlässigkeit zwischen den DQR-Levels 4 bis 6 im internationalen Vergleich.
Anstelle der fast ausschließlich nach Stundenumfang, Unterrichtsform etc. formalisierten Vorgaben muss ein kompetenzorientierter Lehransatz der Qualifizierung geplant werden: in den Fokus von Learning-Outcome-Orientierung gehören praktische Kompetenzen und Qualifikationsniveaus.
Grundlage wäre die einheitliche Neuorganisation von professionellen Bildungs-, Struktur- und Qualitätskriterien für die kompetenzorientierte Entwicklung der Pflegeberufe. Für die Zukunft des Berufsstandes bedeutete das:
- Schaffung einer Berufsordnung auf Basis eines leitenden Berufsethos und Professionalitätsverständnisses, das aus Pflegefachlichkeit heraus definiert ist; dies möglicherweise mit einer Selbstverwaltung, wie sie die Ärzte haben. Altenpflege ist nicht gleich Krankenpflege. Deshalb muss auch im SGB V eine Ergänzung für pflegerische Aufgaben entstehen, welche die multiprofessionelle Zusammenarbeit mit ärztlichem Handeln definiert.
- Neuorganisation eines akademischen Weiterbildungssystems akkreditierter Bildungsträger (Schulen, Akademien, Hochschulen), die pflegerische Bildung und Qualifizierung bundeseinheitlich ermöglichen. Eine Systemakkreditierung nach dem Vorbild von privaten Hochschulen mit Kriterien für institutionelle Strukturen, Kompetenzen, Didaktik und zu erreichenden Lernzielen wäre eine formale Grundlage, um verlässlich anerkannte Abschlüsse für Bildungsangebote auch im Pflegesektor zu gewährleisten.
- Zuschreibung von bildungsgrad-adäquaten Kompetenzfeldern und Verantwortungsbereichen für die multiprofessionelle Zusammenarbeit in der klinischen und außerklinischen Praxis.
Zielführend für das ganze Berufsbild der Fachkrankenpflege würden Absolventen von pflegewissenschaftlicher Weiterbildung tatsächliche Entwicklungsperspektiven gegeben.
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Prof. Dr. Wolfram Schottler
Vorsitzender der Interdisziplinären Gesellschaft für Bildung in der Pflege IGBP e.V.
Geschäftsführer der Bildungsakademien BaWiG GmbH, Curademic GmbH