Prof. Dr. Wolfram Schottler legt den Finger gleich in die Wunde. Der Chef der Pflegeakademie BaWiG (und 1. Vorsitzende der IGBP) kritisiert, dass heute praktisch jeder Weiterbildung für die Pflege anbieten kann und es keine Qualitätskontrollen gibt. Im Interview mit Care vor9 erklärt er auch, warum digitaler Unterricht den Kurs am Bett nicht ersetzen kann. "Pflege braucht Hands-on-Kompetenz und Empathie", das funktioniere nicht aus der Ferne.
Was sind die größten Herausforderungen für die Aus- und Weiterbildung in der Pflege?
Ein erhebliches Problem liegt im Bereich der Weiterbildung, in der ein heilloses Durcheinander herrscht. Während die Ausbildung in der Pflege mit der noch zu evaluierenden Generalistik nun klare Regeln hat und auch die Pflegestudiengänge eindeutigen Vorgaben der Akkreditierung folgen, besteht dazwischen für den Bereich der Weiterbildung ein Regelungs- und Qualitätsvakuum: 16 Bundesländer haben verschiedene Anforderungen an die Weiterbildung in der Pflege, Kostenträger definieren in Vergütungsverhandlungen ihre eigenen Vorgaben, Rahmenempfehlungen des G-BA bleiben vage und hinsichtlich akademischer Akkreditierung und Qualität von Lehrveranstaltungen oder Abschlüssen gibt es keinerlei Maßstäbe. Mit anderen Worten: Es gibt für Weiterbildung kein verlässliches Regelwerk oder Qualitätsmaßstäbe, was schon sehr sonderbar ist, da ansonsten in der Pflege alles sehr genau oder sogar überreguliert ist, und auf der anderen Seite im so wichtigen Bereich der Weiterbildung eine Lücke besteht.
Woran liegt das?
Pflege wird in ihrer Bedeutung von der Politik und der Gesellschaft trotz vieler Lippenbekenntnisse der Anerkennung nicht richtig wahrgenommen – und nicht erst jetzt, denn beispielsweise gab es nach der Pleite der Reformhauskette aus der Politik den Vorschlag, man könne ja die ‚Schlecker-Frauen‘ in der Pflege einsetzen. Das zeugt von tiefstem Unverständnis, wenn nicht gar von Verachtung für die Pflegeberufe, denn das besagte, das kann jeder ohne passende Qualifikation. Wir wollen aber echte Pflegefachkräfte, vielleicht künftig abgestuft vom Pflegehelfer bis zur verantwortlichen Fachkraft. Für ein professionelles Verständnis ist das Pflegeberufegesetz ein Anfang, aber keine wirkliche Berufsordnung, die Bildungswege Chancen und Anforderungen definiert. Das führt dazu, dass in der Weiterbildung jeder ein bisschen seines Glückes Schmied ist und sehr unterschiedliche Angebote vergleichen muss. Als logische Entwicklung aus dem Pflegeberufegesetz wäre nun eine Weiterbildungsordnung für Pflegeberufe dringend erforderlich, so wie das etwa die Ärzte und andere Therapieberufe haben.
Und warum ist das ein Problem?
Derzeit kann theoretisch in diesem Sektor jeder, die sich als Pflegekraft aus der Praxis berufen fühlt oder auch ohne Pflegeausbildung ein Business eröffnen möchte, Pflegeweiterbildungen anbieten und das dann auch noch Akademie nennen. Und das passiert leider auch, was zu intransparenten Marktbedingungen mit ungleichem Wettbewerb und sinkender Qualität führt. Leidtragende sind die Absolventen von solchen mangelhaften und nicht anerkennungsfähigen Kursen. Wir sind gegen diesen Wildwuchs in der Weiterbildung und setzen uns für akademische Bildungsstandards und eine institutionelle Akkreditierung der Bildungsanbieter nach festen Qualitätsmaßstäben ein.
Wie kann ein Einrichtungsleiter, der seine Mitarbeiter auf Weiterbildung schickt, einen guten Bildungsanbieter erkennen?
Er kann sich zum Beispiel daran orientieren, wie lange eine Akademie schon am Markt ist und ob sie zum Beispiel ausgearbeitete und anerkannte Lehrpläne mit kompetenzorientierten Lernzielen, mit struktureller und methodischer Leistungsfähigkeit und einer Prüfungsordnung hat. Die Einrichtungen sollten auch drauf achten, ob eine Akademie und ihr Kursangebot von den Kostenträgern anerkannt sind. Es gab schon Fälle, wo der Medizinische Dienst der Kassen erworbene Zertifikate nicht akzeptiert hat.
Wie verändert die Digitalisierung die Weiterbildung in der Pflege?
Hier hat sich einiges entwickelt. Online-Unterricht spart Zeit und Kosten, und auch wir bei der Bawig nutzen diese Möglichkeiten. Aber Vorsicht: auch bei didaktisch ausgefeiltem Fernunterricht mit Live-Interaktion kann das Lernen via Monitor guten Präsenzunterricht nicht ersetzen. Pflege ist ein praktisches Berufsfeld und immer in soziale Interaktion mit Menschen. Pflege braucht Hands-on-Kompetenz und Empathie. Das muss im Kurs miteinander, am Bett und am Menschen geübt werden. Lernende müssen in Gruppen agieren und sich ausprobieren können. Das geht nicht aus der Ferne, sondern findet in unseren Seminarzentren an mittlerweile elf Standorten in ganz Deutschland statt.
Was ist mit Videos oder VR-Brillen zum Lernen?
Videos sind sehr populär, leicht anzuschauen und eingängig. Wir setzen sie zur Vertiefung im begleitenden E-Learning ein. Weil man es theoretisch immer wiederholen kann, ist die Aufmerksamkeit leider oft nicht hoch und das Wissen ist genauso schnell wieder weg. Was man sich mit Lesen oder durch Anschauung im Unterricht erarbeitet hat, geht tiefer und bleibt besser hängen und das ist dann nicht nur formale Pflichterfüllung, sondern tatsächliche Kompetenzverbesserung. Natürlich prüfen wir stets auch Innovationen wie Virtual-Reality-Brillen. Aber ein Pflegebett ist kein Flugzeugcockpit; hier kann man nicht simulieren, wie ein Patient sich in bestimmten Situationen verhält. Jeder reagiert anders und eine Maschine wäre schnell berechenbar, wie es die Wirklichkeit nicht ist. Vielleicht ist die KI irgendwann selbstlernend soweit, aber im Moment hat uns noch nichts überzeugt.
Wie sieht der Mix bei BaWiG-Kursen aus?
Bei uns gibt es aus den besagten Gründen mindestens 50 Prozent Präsenzunterricht. Aber auch online setzen wir nicht auf das Abspielen Konserven (was einfacher und günstiger wäre), sondern auf Live-Unterricht, weil auch hier die Interaktion und die persönlichen Erklärungen durch den Dozenten von großer Bedeutung sind. Da sind wir im Rahmen unserer Prüfungsordnung und nach den Vorgaben der Rahmenempfehlung konsequent: Wer bei der Online-Schulung seine Kamera ausschaltet, gilt als nicht anwesend und muss diesen Teil kostenpflichtig nachholen. Am Anfang reagierten manche Teilnehmer mit wenig Verständnis, aber mittlerweile wird das als Qualitätsmerkmal unserer Kurse geschätzt und zum Präferenzmerkmal.
Sie sind einer der Gründer der Interdisziplinären Gesellschaft für Bildung in der Pflege, kurz IGBP. Was ist das Ziel?
Der Ausgangspunkt war die Entdeckung gemeinsamer Interessen von unterschiedlichen Richtungen: Als Vertreter von Hochschulen, Akademien, Krankenkassen, Verbänden, Kammern und Politik erkannten wir, dass entscheidende Probleme der Anerkennung, Wertschätzung und des Berufsbildes der Pflege in ungelösten Problemen oder Widrigkeiten der Aus- und Weiterbildung fußen. Dies wollen wir als interdisziplinärer Zusammenschluss von Akteuren, die Interesse an einer guten Bildung in der Pflege haben, ändern und setzen uns in gesundheits- und bildungspolitischer Arbeit für einheitliche und akkreditierbare Qualitätsstandards in der Aus- und Weiterbildung für Pflegefachkräfte, für definierte Kompetenzstufen und Durchlässigkeit im Sinne weiterführender Bildungsbiographien ein.
Hört Ihnen die Politik zu?
Uns stehen die Türen offen und in unseren Gesprächen ist das Wohlwollen groß. Aber auch viel Verständnis für sinnvolle Folgerungen in Gesetzgebung und Praxis heißt leider noch nicht zwangsläufig, dass die Politik es auch in aktives Handeln umzusetzen vermag. Hier ist Geduld und Hartnäckigkeit gefordert.
Direkt-Link: Care Inside (carevor9.de)